Was geschah mit Dr. Thomas Middelhoff?
Seit die Verteidiger des in der JVA Essen einsitzenden Thomas Middelhoff am Wochenende Foltervorwürfe erhoben haben, befinden sich Journalisten und Politiker im „Jagdfieber“. Sollte sich in Essen ein Strafvollzugskandal zugetragen haben? Dass die Verteidigung Middelhoffs mit solchen Vorwürfen aufwartet, ist durchaus verständlich, strebt sie doch für ihren Mandanten die Aufhebung des erlassenen Haftbefehls an. Dass sich aber Journalisten und vor allen Dingen Politiker diese Vorwürfe ungeprüft zu eigen machen, ist ein Skandal. Renate Künast von den Grünen hat sich hier in geradezu niederträchtiger Weise positioniert.
In unserer rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft ist der Strafvollzug ein wesentlicher Bestandteil der Inneren Sicherheit. Die Gesellschaft soll zum einen vor Straftätern geschützt und durch die Behandlung von Delinquenten sicherer gemacht werden. Für jeden Menschen ist eine Inhaftierung mit der einschneidenden Veränderung der individuellen Lebensumstände verbunden. Menschen, die im fortgeschrittenen Alter mit der „Welt hinter Gittern“ konfrontiert werden und deren bislang als sicher empfundene Lebenswirklichkeit aus den Angeln gehoben wird, reagieren auf eine Inhaftierung meist überaus sensibel. Dies gilt besonders für die Untersuchungshaft, in der sich Dr. Middelhoff bis gestern befand. Es ist eine vielfach belegte Erfahrung von Vollzugspraktikern, dass gerade solche Gefangene, deren berufliches, finanzielles und soziales Umfeld wegbricht, in der besonderen Gefahr stehen, eine Lebensbilanz zu ziehen und dann zum Suizid neigen, wenn diese Bilanz für sie nach ihrer subjektiven Einschätzung negativ ausfällt.
Grundsätzlich stehen beim Vorliegen einer akuten Suizidgefahr drei Regelungsalternativen zur Verfügung. Nach § 10 UVollzG NRW ist die Abweichung vom Prinzip der Einzelunterbringung zulässig. Zudem können als besondere Sicherungsmaßnahmen gem. § 42 Abs. 2 Nrn. 2 und 5 UVollzG NRW die Beobachtung, auch mit technischen Hilfsmitteln, und die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände angeordnet werden. Bei der Abwägung dieser Maßnahmen ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit strikt zu beachten.
Die JVA Essen hat sich für die Beobachtung des Herrn Middelhoff in kurzen zeitlichen Abständen ohne technische Hilfsmittel entschieden, einer Maßnahme mit deutlich geringerem Eingriffscharakter als die Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum. Was die konkreten Gründe für diese Entscheidung waren, wissen weder wir noch die Journalisten und Politiker. Die Einrichtung wird aber ihre Absichten mit dem Betroffenen erörtert und eine ärztliche Stellungnahme eingeholt haben, um dann eine Sachentscheidung zu treffen.
Selbstverständlich führt eine Beobachtung für den jeweils Betroffenen zu unvermeidbaren Einschränkungen, weil diese zwangsläufig mit Vitalkontrollen verbunden ist. Allerdings von permanentem Schlafentzug für die Dauer von 672 Stunden zu sprechen und Vergleiche mit Guantanamo anzustellen, wie es die Verteidiger Middelhoffs offenbar tun, geht an der Realität deutlich vorbei. Untersuchungsgefangene sind nicht zur Arbeit verpflichtet. Sie können auch während der Tagesstunden ruhen oder schlafen, ohne dass sie durch das Anschalten des Lichtes aus Anlass der Beobachtungen gestört werden.
Beobachtungen werden als Maßnahmen mit minderschwerem Eingriffscharakter relativ häufig angeordnet. Die Maßnahmen der Suizidprophylaxe sind gesetzlich zulässig und können in jedem Einzelfall gerichtlich überprüft werden. In diesem Zusammenhang von Folter zu sprechen, wie es die Anwälte von Thomas Middelhoff tun, oder aber - wie Renate Künast von den Grünen – Menschenrechtsverletzungen zu beklagen, ist nicht nur überzogen, sondern eine Missachtung all jener Menschen, die weltweit tatsächlich unter unzulässiger, willkürlicher staatlicher Gewalt zu leiden haben.
Der Vollzugseinrichtung geht es nämlich nicht wie bei der Folter darum, durch körperliche und seelische Gewalt, Schmerzen, Qualen, Erniedrigung oder Angst zu bewirken und den Willen eines Gefangenen zu brechen. Nein, der Vollzug strebt im Gegenteil eine Rechtsgüterabwägung zwischen der körperlichen Unversehrtheit der ihm anvertrauten Menschen durch Verhinderung von Selbstbeschädigungen oder Suiziden einerseits und den dadurch bewirkten Belastungen für die Betroffenen andererseits an.
Wenn nach dieser Abwägung eine Ermessensentscheidung auf gesetzlicher Grundlage getroffen wird, kann es sich weder um Folter noch um Menschenrechtsverletzungen handeln. Die Bediensteten des Strafvollzuges durch Vorwürfe dieser Art zu diskreditieren, ist an Böswilligkeit kaum zu überbieten.
Die verantwortungsvolle Arbeit von Strafvollzugsbediensteten auch nur in die Nähe von Folter, Menschenrechtsverletzung oder Stasi-Methoden zu bringen, hat mit sachlicher Recherche und Berichterstattung rein gar nichts mehr zu tun. Wenn sich aber eine verantwortliche Politikerin wie Renate Künast, wohl um der öffentlichen Wirkung willen, mit solch tendenziöser Kritik zu Wort meldet, dann ist etwas faul in unserem Staate.
Immerhin haben auch die Grünen in Nordrhein-Westfalen das am 25. Januar 2015 in Kraft getretene Strafvollzugsgesetz NRW beschlossen, das fast wortgleiche Regelungen wie das Untersuchungshaftvollzugsgesetz NRW enthält, auf dessen Grundlage der Fall des Thomas Middelhoff entschieden worden ist. Wenn Politiker als Mitglieder von Gesetzgebungsorganen Regelungen schaffen und anschließend die Bediensteten für deren Anwendung kritisieren, dann wird das Vertrauen in die Politik in seinen Grundfesten erschüttert.
Es ist völlig egal, welche Entscheidungen im Rahmen der Suizidprävention getroffen werden, treten Komplikationen auf, steht der Strafvollzug regelmäßig in der Kritik. Der Kommentartor des Westfalen-Blattes weist in der heutigen Ausgabe der Zeitung auf diesen Umstand hin. Er berichtet, dass sich vor wenigen Jahren ein Paderborner Unternehmer unmittelbar nach Einlieferung in die Untersuchungshaft das Leben genommen habe. Familie und Öffentlichkeit hätten den Vollzug als unsensibel kritisiert, weil dieser den Manager für psychisch stabil gehalten hatte.
Im Fall des Thomas Middelhoff sei anders vorgegangen worden. Bei ihm habe das übliche Verfahren der Beobachtung Anwendung gefunden, weil man von einer akuten Suizidgefährdung ausgegangen sei. Dies sei ein Verfahren, das Außenstehende üblicherweise kaum errege. Im Fall des Thomas Middelhoff sei das anders. Jetzt sei von Menschenrechtsverletzungen, von Stasi-Methoden, von Folter zu hören. Recht hat der Kommentator!
An diesem Fall wird einmal mehr deutlich, dass die Prominenz eines Gefangenen durchaus geeignet ist, Politiker auf den Plan zu rufen, die weniger an der Sache selbst interessiert sein dürften, als an der eigenen öffentlichen Wahrnehmung. Wäre es anders, hätten sie die in Essen angewendete Suizidprophylaxe schon vor Jahren kritisieren müssen. Entscheidungen, wie sie in Essen getroffen wurden, werden tagtäglich in den bundesdeutschen Vollzugseinrichtungen realisiert.
Der stv. Vorsitzende der FDP-Landtagsfraktion, MdL Joachim Stamp, hat Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) zwischenzeitlich um Aufklärung gebeten, weil durch „die Grünen – immerhin Koalitionspartner in NRW – die in den NRW-JVAs offenbar übliche Praxis als menschenrechtsverletzend“ bezeichnet werde.
Der BSBD erwartet eine sachliche parlamentarische Aufarbeitung des „Falles Middelhoff“, um das Dilemma der Entscheidungsträger des Vollzuges in Fragen der Suizidprävention einmal öffentlich darzustellen. Der BSBD lehnt allerdings haarspalterische Besserwissereien ab, die meist unberücksichtigt lassen, dass im Strafvollzug Sachverhaltsaufklärung und Entscheidungsfindung in einem engen Zeitrahmen zu erfolgen haben. Zudem verwahrt sich die Gewerkschaft Strafvollzug davor, dass die Entscheider der JVA Essen und die Bediensteten des Strafvollzuges als Gesamtheit allein aufgrund vager Spekulationen öffentlich an den Pranger gestellt werden.