Ist der Rechtsstaat den gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen noch gewachsen?
Vor wenigen Tagen berichtete FOCUS Online über eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungs-Instituts Civey (Berlin). Im Auftrag von FOCUS Online hatte das Institut 5.000 wahlberechtigte Deutsche zwischen dem 14. und 28. Dezember 2018 befragt, wie groß ihr Vertrauen in die Justiz der Bundesrepublik sei? Die Erkenntnisse aus der Befragung sind erstaunlich und lassen aufhorchen.
Die Umfrage hatte zum Ergebnis, dass das Ansehen der Justiz seit 2013 in geradezu dramatischer Weise abgenommen hat. Speziell im Osten der Republik und bei älteren Bürgerinnen und Bürgern ist dieser Trend unübersehbar und sollte die Politik zum Handeln veranlassen.
Speziell dieser Teil der Gesellschaft ist der Auffassung, dass der Staat sein Gewaltmonopol nicht mehr angemessen wahrnimmt und seine Bürgerinnen und Bürger deshalb nicht ausreichend schützt. Flankiert werde dieser Mangel auch durch eine beeinträchtigte Rechtsschutzgewährung. Effektiver Rechtsschutz habe zur Voraussetzung, dass Entscheidungen innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens getroffen werden könnten. Angesichts einer seit Jahren überlasteten Justiz, so viele der Befragten, könnten die grundgesetzlich garantierten Rechte seitens des Staates kaum mehr und dann auch nur unzureichend erfüllt werden.
Nach der Civey-Umfrage sprechen aktuell nur noch rund 41 Prozent der Bundesbürger der Justiz großes oder sehr großes Vertrauen aus. Im Jahre 2013 lag dieser Wert bei einer EU-Umfrage noch bei 77 Prozent. Besorgnis erregen muss aber, dass 45 Prozent der Befragten nur ein geringes oder sehr geringes Vertrauen in die Justiz haben. Rund 14 Prozent waren bei dieser Frage unentschieden. Es sollte die Politik aufhorchen lassen, dass das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die rechtsstaatliche Verfasstheit unserer Gesellschaft innerhalb von nicht einmal sechs Jahren um 36 Prozent gesunken ist.
Dies ist ein alarmierendes Zeichen und sollte uns alle beunruhigen. Viele der Befragten äußerten auch Zweifel an der Unabhängigkeit von Richtern und sind skeptisch, ob der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz noch unausgesetzt Gültigkeit hat. Dieses Umfrageergebnis ist eine objektive Gefahr für den Rechtsstaat, ob die Eindrücke der Befragten nun berechtigt sind oder auch nicht. Allein das subjektive Empfinden vieler der Befragten ist geeignet, den Rechtsstaat in eine neuerliche Krise zu stürzen.
Jetzt scheint sich zu rächen, dass die Politik in neoliberaler Verblendung Justiz, Polizei und nicht zuletzt auch den Strafvollzug in den zurückliegenden Jahrzehnten personell ausgedünnt und einem rigiden Spardiktat unterworfen hat. Zwischenzeitlich hat zwar ein Umdenken eingesetzt; hoffentlich entfaltet dieser Prozess noch die erwartete Wirkung. Was viele Bürgerinnen und Bürger am Rechtsstaat und speziell am Gewaltmonopol des Staates zweifeln lässt, ist der Umstand, dass die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft zu bestimmten Tageszeiten fast völlig aus dem öffentlichen Straßenbild verschwunden sind. Die Betroffenen erleben dies als beeinträchtigend und als einen Verlust an persönlicher Freiheit.
Die öffentlichen Plätze der Städte werden zunehmend von übergriffigen und konfliktbereiten jungen Männern dominiert. Oft wird beim Auftreten von Konflikten das Eingreifen der Gutwilligen angemahnt und an die Zivilcourage der Menschen appelliert. Aber das sagt sich so leicht. In der konkreten Situation ist allerdings abzuwägen, wie hoch das Selbstgefährdungsrisiko ist und ob man am Ende nicht allein einer aggressiven Gruppe ohne jegliche Unterstützung gegenübersteht. Die Polizei geht schließlich in viele Problemviertel auch nur noch in Mannschaftsstärke.
Der Staat hat die Zügel in dieser Hinsicht in den zurückliegenden vier Jahrzehnten schleifen lassen. Wohl auch aus Furcht vor Diskriminierungsvorwürfen ist so eine Entwicklung in vielen Problembezirken von Ruhrgebietsstädten eingetreten, die wohl nur mit einem enormen Aufwand umgekehrt werden kann. Zumindest unternimmt die Landesregierung jetzt einiges, um das Gewaltmonopol des Staates wieder durchzusetzen.
Ein Polizeiexperte zitierte dieser Tage aus einem Bericht der Berliner Zeitung. Anhand eines konkreten Beispiels aus der Praxis versuchte er darzustellen, welch verheerende Wirkung es auf Betroffene und Dritte hat, wenn man erleben muss, in seinem privaten Bereich, nämlich der eigenen Wohnung, schutzlos zu sein.
Mit der Öffnung der Grenzen war es auch Kriminellen schnell klar, dass man in Deutschland ohne großes Risiko Beute machen kann. Aufgabe der Politik wäre es gewesen, die Bürger vor diesem Risiko angemessen zu schützen. Passiert ist jedoch relativ wenig. Man hat dem Bürger empfohlen, den passiven Schutz durch Einbruchssicherungen zu erhöhen. Nach Ansicht des Experten hat man damit die Schwächsten der Gesellschaft den reisenden Einbrecherbanden faktisch ausgeliefert.
Zu Opfern werden oftmals betagte, wehrlose Alte, weil sie für die Täter ein geringes Risiko darstellen. Und es ist eine Schande, dass die Gesellschaft sie nicht besser zu schützen vermag. Schließlich haben sie das Land aufgebaut und die Grundlage für unseren relativen Wohlstand gelegt. Der Experte schildert daher auch den Fall einer 94-jährigen pflegebedürftigen Frau aus Potsdam, die den 2. Weltkrieg überstanden und mit ihrem Mann eine Fleischerei aufgebaut hatte, bevor sie ins Brandenburgische zog und dort mit ihrem Mann ein Haus errichtete. Ihr Mann verstarb vor zwei Jahren mit 95 Jahren, nachdem er sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen hatte.
Diese betagte Frau wurde am 09. Januar 2019 von reisenden Gangstern überfallen, aus dem Bett gezerrt, geschlagen und gefesselt. Als der über ihr wohnende 62-jährige Sohn auf die Situation aufmerksam wurde und die Wohnung der Mutter aufsuchte, wurde er ebenfalls schwer misshandelt. Beiden wurde eine Pistole an die Schläfe gehalten.
Die Gangster durchwühlten Schränke und Kommoden. Sie erbeuteten Bargeld und Schmuck. Selbst die Ringe wurden der alten Dame von den Fingern gerissen. Grün und blau geschlagen wurde die traumatisierte Frau in ein Krankenhaus eingeliefert, nachdem die Täter das Weite gesucht hatten.
Wo bleibt in einem solchen Fall der Aufschrei der Gesellschaft, der bei der vermeintlichen Diskriminierung von Minderheiten so oft zu hören ist? Sind es uns unsere Alten einfach nicht wert, dass sie ihren letzten Lebensabschnitt körperlich unversehrt, selbstbestimmt und zumindest in relativer Freiheit und Sicherheit erleben dürfen?
Weil Wohnungseinbrüche in Deutschland relativ gefahrlos begangen werden können, bezeichnen die Mitarbeiter der Kriminaltechnik die Inaugenscheinnahme des Tatortes ironisch als „Beileidsbesuch“, der mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zur Aufklärung der Tat führen wird.
Dem ehemaligen Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen und vormaligen niedersächsischen Justizministers Prof. Dr. Christian Pfeiffer haben wir es zu verdanken, dass wir die Angaben der Kriminalitätsstatistik realistischer bewerten und einschätzen können. In der Sendung der ARD vom 27. April 2015 „Trauma Einbruch – Hilflos gegen Diebesbanden?“, also noch vor der Flüchtlingskrise, ließ uns der Wissenschaftler wissen, dass die in der Kriminalitätsstatistik mit 15,2 Prozent angegebene Aufklärungsquote bei Wohnungseinbrüchen nur die „geschönte Welt der Polizei“ widerspiegele. Von 100 angezeigten Taten gebe es nur 2,6 Verurteilungen.
Im vergangenen Jahr freute sich die Politik über den Rückgang der Straftaten, weil speziell bei den Wohnungseinbrüchen ein überproportionaler Rückgang zu verzeichnen gewesen sei. Polizeiexperten sind eher skeptisch. Und auch Prof. Dr. Pfeiffer äußerte sich in der vorbezeichneten Sendung eher kritisch. So hätten ihm Polizeibeamte berichtet, die da oben benötigten geschönte Zahlen für ihre Politik. Zudem, so der Wissenschaftler, ließen sich Statistiken immer „interpretieren“. Daher werden auch nur die Aufklärungsquoten erhoben und Tätern relativ willkürlich gleichartige Taten zugerechnet, was die Quote verbessert. Die Anzahl der tatsächlichen Verurteilungen bleibt hingegen im Dunkeln, weil sonst eventuell die Öffentlichkeit verunsichert werden könnte?
Ob sich das 94-jährige Opfer des brutalen Überfalls jemals von ihrem Trauma erholt, wissen wir nicht. Sie wird nach ihrer Genesung aber künftig nicht mehr unbeschwert und sorglos in ihrem Haus wohnen können. Die erlittene Heimsuchung teilt sie mit jährlich Tausenden Leidensgenossen. Ihr Schicksal am Abend eines arbeits- und entbehrungsreichen Lebens wird die Lebenswirklichkeit unserer ethisch-moralischen Eliten und Weltverbesserer vermutlich nicht in Unordnung versetzen. Schließlich sind es stets nur Einzelfälle, die kaum die Chance haben, ein liebgewordenes Weltbild ins Wanken zu bringen.
Jetzt zeigt die Civey-Umfrage überdeutlich, dass das Vertrauen in den Rechtsstaat schwindet. Und dieser Vertrauensverlust erreicht erstmals eine „kritische Masse“. In sechs Jahren das Vertrauen von 36 Prozent der wahlberechtigten Deutschen zu verlieren, muss man erst einmal schaffen.
Der Vertrauensschwund vollzieht sich aber immer noch schneller, als der Aufbau neuen Vertrauens. Deshalb ist die Politik gut beraten, wenn sie aus dieser negativen Entwicklung schnell sachgerechte Schlüsse zieht.
Nachdem die Gesellschaft wesentlich heterogener geworden ist, haben sich zusätzliche Probleme eingestellt. Die Politik neigt noch immer dazu, diese Probleme kleinzureden, vermutlich weil sie vielfach von schutzbedürftigen Minderheiten verursacht werden. Wenn ein Problem aber nicht als solches analysiert und benannt wird, besteht keine Chance, solche gesellschaftlichen Fehlentwicklungen einer vernünftigen Lösung zuzuführen. Die übliche Beschwichtigung der Mehrheitsgesellschaft verschafft der Politik allenfalls etwas Zeit, mehr aber auch nicht.
Wohin es führen kann, wenn man kleine Probleme zu großen heranwachsen lässt, zeigt uns die Clan-Kriminalität, die derzeit in aller Munde ist. Der gesellschaftliche Zusammenhalt kann nur erhalten werden, wenn auftretende Probleme ohne ideologische Scheuklappen analysiert und schnell einer Lösung zugeführt werden, egal welche gesellschaftliche Gruppe betroffen ist. Falsche Toleranz ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ein äußerst schlechter Ratgeber.
In Nordrhein-Westfalen wird seit 1 ½ Jahren massiv investiert, um die Justiz, die Polizei, den Strafvollzug und den Bildungsbereich personell und konzeptionell so aufzustellen, dass die künftigen Herausforderungen mit einiger Aussicht auf Erfolg gemeistert werden können. Der chinesische Politikwissenschaftler Zhang Weiwei hat kürzlich in einem Fernsehinterview kritisiert, Europa solle sich nicht zu viel auf seine Demokratie einbilden, das sei eine sehr fragile Staatsform, die auf eine möglichst homogene und wohlmeinende Bevölkerung angewiesen sei. Er sehe noch große Schwierigkeiten auf Europa zukommen. China habe sich entschlossen, diesen Weg nicht zu beschreiten.
In NRW bleibt noch viel zu tun, ehe die Versäumnisse der Vergangenheit aufgearbeitet sein werden und der Bereich der Inneren Sicherheit seine alte Schlagkraft zurückgewonnen hat. Zudem wären wir gut beraten, die chinesische Kritik zu wägen und uns so aufzustellen, damit die uns gestellte negative Prognose nicht zur Realität wird.
Friedhelm Sanker