Deutlich weniger Suzide in nordrhein-westfälischen Vollzugseinrichtungen
Es ist immer bedrückend, wenn ein Leben deutlich vor der Zeit endet. Tritt das Ableben im Vollzug durch eigene Hand ein, bleibt meist noch ein traumatisierter Vollzugsbediensteter zurück, weil die meisten Auffindesituationen psychisch sehr belastend sind.
Und dann treten noch Verwaltungsermittlungen und ein staatsanwaltschaftliches Todesermittlungsverfahren hinzu, um die Todesursache definitiv zu klären und um zu prüfen, ob seitens des Vollzuges alles Menschenmögliche getan worden ist, um die Selbsttötung zu verhindern. Der Vollzug nimmt seine Garantenstellung von Jahr zu Jahr intensiver wahr. Ob diese Bemühungen die Zahl der Selbstmorde jedoch signifikant zu reduzieren vermögen, ist bislang wissenschaftlich nicht belegt.
Im Jahr 2021 war die vollzugliche Suizidprophylaxe jedenfalls sehr erfolgreich. Die Selbsttötungen konnten im Vergleich zum Vorjahr um 35 Prozent auf ein durchschnittliches Maß zurückgeführt werden. Im abgelaufenen Jahr begingen 15 Gefangene Selbstötungen, während sich 2020 noch 23 Suizide ereignet hatten.
Auch wenn den Gründen für jeden Suizid intensiv nachgespürt wird, so werden diese Daten jedoch nicht statistisch erfasst und aufbereitet. Der Vollzug kann deshalb zu den Ursachen nur Vermutungen anstellen. Die Jahre 2020 und 2021 waren durch die Corona-Pandemie geprägt. Es drängt sich foglich die Verdacht auf, dass die mit der Pandemie verbundenen Einschränkungen sich auch auf die Zahl der Selbsttötungen ausgewirkt haben könnten. Das Ministerium der Justiz schließt aus dem vorliegenden Zahlenmaterial, dass es einen solchen Zusammenhang nicht gegeben hat. Zur Begründung führt das Ministerium an, dass für die Vor-Pandemie-Jahre 2018/2019 fast identische Zahlen an Suiziden und Suizidversuchen im Vergleich zu den Jahren 2020/2021 (197:198 Fälle) ermittelt worden sind.
Den Zahlen kann entnommen werden, dass äußere Ereignisse vermutlich weniger Einfluss auf die Zahl der Selbsttötungen und Selbsttötungsversuche haben als bislang vermutet. Eine größere Bedeutung dürfte haben, dass Kolleginnen und Kollegen schwierige Lebenssituationen von Gefangenen wahrnehmen und richtig einschätzen. Kann in schwierigen Lagen, die von Gefangenen subjektiv vielfach als ausweglos empfunden werden, Hilfe geleistet oder vermittelt werden, lassen sich Extremereignisse, wie sie ein Suizid darstellt, oftmals vermeiden.
Wie gut und effizient der Vollzug dabei agiert, hängt vielfach von vielen Unwägbarkeiten ab, die oftmal nicht wirksam beeinflusst werden können. Ist eine Suizidgefahr diagnostiziert oder darf sie zu Beginn des Vollzuges unterstellt werden, greift der Vollzug mit Überwachung und psychosozialer Betreuung ein. Die damit verbundenen Einschränkungen der persönlichen Freiheit haben immer den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Eine totale Überwachung wäre unausgesetzt menschenunwürdig und damit verfassungswidrig. Diese Rahmenbedingungen sind dafür verantwortlich, dass Selbsttötungen auch in einer totalen Institution wie dem Vollzug nicht ausgeschlossen werden können. Die Vollzugsbediensteten sind zwar gut geschult und damit in der Lage, Suizidgefahren zu erkennen, der Erfolg ihrer Arbeit hängt allerdings auch vom Zufall und der schauspielerischen Leistung des zur Selbstötung Entschlossenen ab. Denn hat ein Gefangener die Bilanz seines Lebens erstellt und sich entschlossen, Suizid zu begehen, will er in der Regel sicherstellen, dass dieser Entschluss nicht durch Vollzugsbedienstete durchkreuzt wird.
Nachdem wir das Sterben und den Tod weitgehend aus unserem Alltagsleben verbannt haben, ist das Auffinden eines Leichnams immer ein traumatisches Ereignis. Dies gilt besonders für den Vollzug, weil dort die Gefangenen überwiegend in einem Alter untergebracht sind, in dem nicht mit einem Ableben zu rechnen ist. Öffnet ein Vollzugsbediensteter morgens die Hafträume, dann tut er das nicht in dem Bewußtsein, er könnte einen Leichnam vorfinden. Tritt der seltene Fall aber doch ein, dann ist das für den betroffenen Vollzugsbediensteten ein Schock und eine psychische Belastung. Trotzdem muss er funktionieren und die für diesen Fall erteilten Weisungen minutiös abarbeiten.
Ein Suizid ist immer eine menschliche Tragödie, unter der alle Beteiligten zu leiden haben. Der Vollzug versteht seine Garantenstellung im Übrigen so, dass er in seiner Obhut befindliche Menschen notfalls vor sich selbst schützen muss. Gelingt dies im Einzelfall einmal nicht, wird diese Situation als eine solche des Scheiters empfunden.
Nach Angabe des Statistischen Bundesamtes starben im Jahr 2020 insgesamt 9.206 Personen durch Suizid, das sind 25 Fälle pro Tag. Rund 75 Prozent aller Selbsttötungen wurden von Männern begangen. Männer waren im Durchschnitt 58,5 Jahre alt. Das durchschnittliche Alter der Frauen zum Zeitpunkt des Suizides betrug 59,3 Jahre. In den zurückliegenden fünfzig Jahren sind Selbsttötungen immer mehr zurückgegangen. Noch im Jahr 1980 gab es mit 50 Fällen pro Tag, eine doppelt so hohe Selbsttötungsrate wie derzeit.
Hierbei handelt es sich um eine Entwicklung, die auch im Vollzug spürbar ist. Auch hier sind wesentlich weniger Suizide zu verzeichnen. Da im Vollzug jedoch jene Personengruppe, für die eine Selbsttötung eine Lösung ihrer Probleme darstellt, überproportional häufig vertreten ist, wird man Quoten wie außerhalb des Vollzuges kaum erreichen können.
Derzeit bewegt sich der bundesweite Durchschnitt der Selbsttötungen bei 11,3 Suiziden pro 100.000 Einwohner. Für den Vollzug in NRW bedeutet das für die zurückliegenden Jahre, dass sich bei einem jährlichen Durchlauf von ca. 50.000 Gefangenen in 2020 23 und in 2021 15 Suizide ereignet haben. Bezogen auf 100.000 Personen lag die Quote damit 2020 bei 46 und 2020 bei 30 Fällen.
Dies ist angesichts der untergebrachten Klientel ein durchaus beachtliches Ergebnis, das Zeugnis davon ablegt, dass die Intensivierung der Suizidprophylaxe sowie die gute Schulung und Arbeit der Kolleginnen und Kollegen Früchte zu tragen beginnen.
Nachdem die Digitalisierung auch im Vollzug langsam voranschreitet, kam die Idee auf, künstliche Intelligenz zur Reduzierung von Suiziden einzusetzen. Das NRW-Justizministerium hat bereits Ende 2019 ein Forschungsvorhaben initiiert, das dass Ziel verfolgt, suizidale Handlungsmuster mittels künstlicher Intelligenz frühzeitig zu erkennen. Das zu entwickelnde Verfahren soll, entsprechende Wirksamkeit vorausgesetzt, bei der Video-Überwachung von Gefangenen eingesetzt werden.
Mit der Softwareentwicklung ist ein sächsisches Unternehmen betraut worden, das die Evidenz ihres Produktes zunächst in einem eigens geschaffenen Versuchsraum überprüfen soll, bevor es im Realbetrieb einer Vollzugseinrichtung in den Probebetrieb gehen soll.
Das Forschungsvorhaben hat zwischenzeitlich den Nachweis erbracht, dass man eine herausfordernde, komplexe Intention verfolgt, um ein weiteres Präventionstool für die Suizidprophylaxe zu entwickeln.
Um unmittelbar bevorstehende Selbstmordabsichten vorherzusagen, ist bereits ein KI-Algorithmus für den Verkehrssektor entwickelt worden. Zur Feststellung extremer Gefühle fokussiert die Software auf Gesichtsbewegungen, die im Millisekundenbereich erfolgen. Das Programm lässt sich mit Überwachungskamerasystemen kombinieren, um die Möglichkleit für eine rechtzeitige Intervention zu schaffen.
Die für den Vollzug zu entwicklende Software setzt auf diesen Erkenntnissen auf, hat aber noch erheblich höhere Anforderungen zu meistern. Dabei ist nicht sicher, ob die Softwareentwickler in letzter Konsequenz überhaupt erfolgreich sein werden.
Mimik und Körpersprache geben zwar sichere Hinweise darauf, wie sich ein Mensch gerade fühlt. Sie geben jedoch keine Auskunft darüber, warum ein Mensch gerade eine bestimmte Emotion erlebt. Zieht jemand beispielweise die Augenbrauen hoch und zusammen, ist dies ein zuverlässiger Indikator, dass der Mensch Sorge empfindet und damit eine leichte Angst verspürt. Die Signale von Sorge in der Mimik bedeuten jedoch nicht, dass eine Selbstmordabsicht vorliegen muss.
Um künstliche Intelligenz in die Lage zu versetzen, dass sie zuverlässig funktioniert, müssen zunächst klare nonverbale Signale entdeckt werden, die eine Selbstmordabsicht verläßlich enthüllen. Bislang hat es die Forschung jedoch noch nicht vermocht, solche Signale zu identifizieren.
Die Experten sind sich einig, dass es nicht ausreicht, nur nach emotionalen Signalen in der Mimik zu forschen, um Suizidabsichten zu erkennen. Dieser Ansatz allein kann nicht erfolgreich sein. Die Wissenschaft geht zwischenzeitlich davon aus, dass der Fokus auf mehrere subtile Anzeichen im Bewegungsverhalten eines Menschen gerichtet werden muss, um Muster erkennen zu können, die eine Verhersage sicher ermöglichen.
Künstliche Intelligenz für die Suizidprävention nutzbar zu machen, wird voraussichtlich noch einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen. Ein solches Softwareprodukt wäre schließlich nur dann eine wertvolle Hilfe für die vollzugliche Praxis, wenn es dauerhaft zuverlässliche Ergebnisse produziert.
Künstliche Intelligenz wird den Vollzug auf Sicht bei der Suizidprävention nicht wesentlich unterstützen können, dafür sind noch zu viele Probleme ungelöst. Künstliche Intelligenz wird derzeit erfolgreich im Verkehrsbereich eingesetzt. Hier kann man sich auf die Erkenntnis stützen, dass Menschen mit Suizidabsichten bestimmte Plätze und Orte bevorzugen, um ihre Absichten zu realisieren. Dieser Umstand und emotionale Signale kann die Emotion-Tracking-Technologie kombinieren und gelangt dann zu guten Ergebnissen.
Im Vollzug bestehen diese Kombinationsmöglichkeiten nicht. Bis auf Weiteres muss auf Überwachung und psychosoziale Zuwendung gesetzt werden. Da die Suizide in den letzten fünfzig Jahren eine rückläufige Tendenz aufweisen, haben sich die konventionellen Möglichkeiten der Suizidverhinderung verfeinert und durchaus bewährt.
Die Überwachungstechnik wurde ebenfalls weiterentwickelt. Was aber ganz entscheidend ist, dass die Vollzugsbediensteten durch die Intensivierung der Aus-, Fort und Weiterbilsung wesentlich besser auf die Aufgabe der Suizidverhinderung vorbereitet sind. Und die Ergebnisse bestätigen, dass die Kolleginnen und Kollegen wirklich gute, anerkennenswerte Arbeit leisten.
Friedhelm Sanker