BVerfG: Allgemeines Persönlichkeitsrecht umfasst auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben
Die Entscheidung war mit Spannung erwartet worden. Jetzt ist es offiziell: Der Paragraf 217 des Strafgesetzbuches ist verfassungswidrig, urteilte das höchste deutsche Gericht heute. Diese Norm war erst 2015 geschaffen worden, um die geschäftsmäßige Sterbehilfe zu untersagen. Mit diesem Rechtsbereich tut sich unsere Gesellschaft seit langem sehr schwer. Wegen der Euthanasie während des Dritten Reiches wollte man offenbar jedes Risiko vermeiden und sprach sich bislang für ein sehr restriktives Vorgehen aus.
Unsere europäischen Nachbarn gehen mit dem Thema wesentlich entspannter und liberaler um. Hier wird die Auffassung vertreten, dass ein selbstbestimmtes Sterben zu einem selbstbestimmten Leben dazugehört. Das Bundesverfassungsgericht hat den Verfassungsbeschwerden von Ärzten, schwerkranken Patienten und dem Sterbehilfeverein des ehemaligen Hamburger Justizsenators Roger Kusch stattgegeben. Diese richtungsweisende Entscheidung aus Karlsruhe hat auch für den Strafvollzug Bedeutung, weil das Instrument der Sterbehilfe künftig auch inhaftierten Menschen zustehen wird.
Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzender des Zweiten Senats, begründete die Entscheidung damit, dass das Allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf ein selbstbestimmtes Ableben enthalte. Folglich sei jeder Betroffene frei darin, sich das Leben zu nehmen und die Hilfe Dritter zur Erreichung dieses Zieles in Anspruch zu nehmen, falls sie angeboten werde. Dieses Recht bestehe in jeder Phase des Lebens. Eine Einengung dieses Rechts liefe auf eine Bewertung der jeweiligen Motivation und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus und sei dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes daher fremd.
Das Verbot des § 217 StGB greife in das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben in unverhältnismäßiger Weise ein, erläuterte Voßkuhle. Die Möglichkeiten eines assistierten Suizids würden unzulässig eingeschränkt. Das Urteil, so das Gericht, führe nicht dazu, dass der Gesetzgeber diesen Rechtsbereich der Suizidhilfe nicht regulieren dürfe, nur sei sicherzustellen, dass für das Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden ein ausreichend großer Raum zur Entfaltung und Umsetzung verbleibe.
Durch das 2015 eingeführte Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe, so hatten die klagenden Mediziner argumentiert, sei die eigentlich straflose Beihilfe ins Rutschen geraten. Sobald die Beihilfe auf Wiederholung angelegt sei, setze man sich dem Risiko strafrechtlicher Verfolgung aus. Dies hatte auch Auswirkungen auf die Palliativmedizin. Die Mediziner bemängelten zurecht, dass der Begriff der „Geschäftsmäßigkeit“ die strafbare Beihilfe zum Suizid nicht mit ausreichender Abgrenzungsschärfe von den erlaubten, straffreien Formen der Sterbehilfe trenne. Dies habe zu großer Verunsicherung bei Patienten und Palliativmedizinern geführt.
Der Bundesgesetzgeber steht jetzt in der Pflicht, diesen Rechtsbereich neu zu regeln und den Menschen realistische Möglichkeiten zur selbstbestimmten Beendigung ihres Lebens zu eröffnen. Weil der Gesetzgeber diese Vorgaben des Verfassungsgerichts zu beachten hat, wird es künftig auch in Deutschland Möglichkeiten des assistierten Suizids geben müssen. Ein solches Recht steht auch inhaftierten Menschen zu und damit erreicht dieses Thema auch den Strafvollzug.
Im letzten Jahrzehnt, so die Erfahrungen der Praxis, sind auch die Gefangenen in den Vollzugseinrichtungen des Landes älter geworden. Etliche Einrichtungen sind dazu übergegangen, Sonderabteilungen für diesen Personenkreis einzurichten. Damit gewinnt künftig auch der assistierte Suizid an Bedeutung.
Ein Blick über die Grenzen zeigt uns, dass die Schweiz gerade dabei ist, den Insassen ihrer Gefängnisse einen Anspruch auf Sterbehilfe zuzubilligen. Der stellvertretende Generalsekretär der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren Alain Hofer hat den derzeitigen Stand der Diskussion in dem Satz zusammengefasst: „Es besteht Einigkeit darin, dass Sterbehilfe auch für Personen im Justizvollzug möglich sein sollte. Unterschiedliche Haltungen bestehen aber noch in der Frage, welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen.“
Nach Einschätzung der Schweizer Kollegen seien die geäußerten Bitten von Gefangenen auf Gewährung eines assistierten Suizids bislang noch auf Einzelfälle beschränkt. Die Entwicklung weise allerdings in die Richtung, dass künftig mit deutlich höheren Fallzahlen zu rechnen sei. Deshalb, so Alain Hofer, sei von Experten ein Grundlagenpapier entwickelt worden, das jetzt intensiv diskutiert und im Herbst 2020 in Empfehlungen an die Kantone einmünden werde.
Der Vollzug ist also gut beraten, sich dieses Themas, das quasi vor der Tür steht, anzunehmen. Dabei sind viele höchst existentielle Fragen moralisch-ethischer Dimension zu beantworten, die an die Grundüberzeugungen der Menschen rühren. Wenn der Bundesgesetzgeber urteilsfähigen Menschen das Recht zu einem assistierten Suizid einräumen wird, wie es das Verfassungsgericht vorgibt, dann ist das Ausdruck der Würde des Menschen, die auch zu wahren ist, wenn Gefangene betroffen sind.
Bis dahin ist zu klären, für welchen Personenkreis die Regeln gelten sollen? Für Kranke und Gesunde gleichermaßen, wie es die niederländischen Aktivisten von „Vollendetes Leben“ propagieren? Wie weit greift die Schutzpflicht des Vollzuges, Affektsuizide von Urteilsunfähigen zu verhindern? Wie soll konkret das Verfahren ausgestaltet werden, das dem assistierten Suizid vorzuschalten ist? Welche Experten sollen beteiligt werden, bevor Sterbehilfe in Anspruch genommen werden darf? Wer trifft die Entscheidung über entsprechende Gesuche von Gefangenen? Wer ist zur Ausstellung des Rezeptes für den Todestrank zuständig? An welchem Ort soll von wem Sterbehilfe geleistet werden? Kann ein Hospiz oder eine Pflegeeinrichtung in Anspruch genommen werden? Dies sind nur einige der Fragen, die der Vollzug zu klären hat.
Angesichts der Komplexität des Themas empfiehlt es sich, relativ zeitnah mit dessen Bearbeitung zu beginnen, auch wenn zunächst einmal der Bundegesetzgeber gefordert ist, die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen für die Sterbehilfe zu bestimmen.
In einer ersten Stellungnahme begrüßte BSBD-Chef Ulrich Biermann die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, weil Menschen am Ende ihres Lebens künftig weitgehend vor Verzweiflungshandlungen geschützt werden können. „Für den Vollzug hat das Thema durchaus Relevanz, weil die Inhaftierten immer älter werden. Es ist jedoch keines von hoher Priorität. Es empfiehlt sich folglich, das Problem in Ruhe und Gelassenheit einer tragfähigen Lösung zuzuführen. Wir vom BSBD werden uns in diesen Prozess mit unserer spezifischen Expertise einbringen,“ machte Biermann die Haltung des BSBD deutlich.
Friedhelm Sanker