Regierungsbildung: Kommt jetzt die Koalition der Wahlverlierer?
Sage und schreibe 14 Prozent haben SPD und CDU/CSU bei der Bundestagswahl am 24. September 2017 an Zustimmung eingebüßt. Eine deutlichere Abwahl kann man sich bei einem Verhältniswahlsystem gar nicht vorstellen. Nachdem die SPD noch am Wahlabend die richtige Konsequenz zog und sich in die Oppositionsrolle verabschiedete, war für die Spitzenkandidatin der Union, Kanzlerin Angela Merkel, praktisch nichts geschehen. Sie stellte lapidar fest, das Ergebnis der Wahl sei ein klarer Regierungsauftrag an die Union.
Die Intervention von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der die Parteien nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen an ihre staatbürgerlichen Pflichten erinnerte, kommt Angela Merkel deshalb sehr gelegen. So muss sie sich nicht mit den Ursachen des Wahldebakels vom September beschäftigen. Denn das hat offensichtlich viel mit ihrer Person und ihrer Flüchtlingspolitik zu tun. Die SPD tut sich nach ihrer Absage, nochmals Regierungsverantwortung zu übernehmen, offensichtlich schwer damit, diese Position jetzt ohne allzu großen Gesichtsverlust zu räumen, zumal ihr Vorsitzender den Gang in die Opposition selbst nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen bekräftigt hatte.
Auf dem Parteitag der SPD hat der Vorsitzende Martin Schulz, die Delegierten nochmals hinter sich gebracht. Er erhielt das Votum der Mitglieder für „ergebnisoffene Gespräche“ mit der Union und wurde zudem als Vorsitzender der Sozialdemokratie bestätigt. Zuvor hatte er allerdings eine mehr als utopische Vision von Europa entwickelt, als er bis 2025 die Vollendung der Vereinigten Staaten von Europa forderte.
Für die anstehenden Gespräche mit der Union hat die SPD die Latte der roten Linien allerdings sehr hoch gelegt. So soll wohl die Parteibasis beruhigt und günstig gestimmt werden, künftigen Koalitionsverhandlungen zuzustimmen.
Zwei Forderungen der SPD sind auch für den Bereich des öffentlichen Dienstes und speziell für den Strafvollzug von ganz wesentlicher Bedeutung. So setzen die Sozialdemokraten das Uralt-Vorhaben der Bürgerversicherung ebenso auf die Tagesordnung wie den Familiennachzug für lediglich subsidiär Schutzbedürftige. Beide Anliegen bergen enormen Sprengstoff, weil sie zum einen mit hohen Kosten und im Falle der Bürgerversicherung mit dem Risiko der Verschlechterung unseres Gesundheitswesens verbunden sind.
Diese Auffassung jedenfalls vertritt die türkischstämmige Soziologin und Migrationsforscherin Necla Kelek. Sie sieht in dem vor allem von politisch links orientierten Kräften quasi als Voraussetzung für die Integration geforderten Familiennachzug keinen Akt der Nächstenliebe und Menschlichkeit, sondern den Beginn von Parallelgesellschaften.
Die Forscherin glaubt auch nicht daran, dass es beim Familiennachzug nur um jene 60.000 bis 70.000 Menschen geht, von denen in den Medien gesprochen wird. Viele junge Syrer und Iraker seien von ihren Familien quasi als Türöffner zu mehr Wohlstand nach Deutschland geschickt worden. Wie sich der Nachzug gestalten könnte, macht Kelek exemplarisch an der Situation der türkischen Gastarbeiter der 1970er Jahre deutlich.
Damals, erläutert Kelek, hätten 650.000 türkische Männer in der Bundesrepublik Brot und Arbeit gefunden. Erst mit der Familienzusammenführung habe sich die Situation grundlegend verändert und die Zahl der Türken in Deutschland habe sich verdoppelt. Mit einem Schlag sei die Anpassungsnotwendigkeit an die Mehrheitsgesellschaft entfallen. Man sei unter sich geblieben und habe das aus dem Herkunftsland bekannte islamische Familiensystem nach Deutschland importiert.
Der Familienbegriff sei in orientalisch-muslimischen Gesellschaften ganz anders definiert. Anders als die westliche Kleinfamilie, in der jedes Mitglied seine individuelle Persönlichkeit frei und selbstbestimmt entwickeln könne, sei die islamische Großfamilie streng patriarchalisch organisiert. Das Familienoberhaupt sei die bestimmende Kraft.
Wenn ein solches System nach Deutschland importiert werde, entfalle ein wesentlicher Integrationsgrund und das Entstehen von Parallelgesellschaften sei kaum zu vermeiden. Necla Kelek stellt fest, dass sich dann niemand mehr anpassen müsse. Man bleibe unter sich und lebe die eigenen Traditionen wie Kinderehe, Frauenunterdrückung oder Gebärzwang.
Es sei für sie nicht nachvollziehbar, meint die Soziologin, wie die Politik in Deutschland die Augen aus Gründen von Toleranz und Nächstenliebe vor den gesellschaftlichen Risiken verschließe. Auch die Einordnung des Islam als eine Religion wie das Christentum hält Kelek, selbst Muslima, für abwegig. Beim Islam gehe es – anders als beim Christentum - nicht allein um Spiritualität, sondern um eine Wertevermittlung hinein in die Gesellschaft. Gottgefällig kann eben nur leben, wer sein ganzes irdisches Dasein an Koran und Scharia ausrichtet.
Weil Deutschland erhebliche Defizite bei der Integration hat, müssen wir jetzt sehr rational vorgehen. Das Entstehen von Parallelgesellschaften in den zurückliegenden fünfzig Jahren hat das deutsche Rechtssystem bereits erodieren lassen. Würden durch den jetzt geforderten Familiennachzug weitere Parallelgesellschaften entstehen, könnte unser Rechtssystem kollabieren.
Nach Einschätzung von Necla Kelek ist Deutschland gut beraten, die Unterstützung von Flüchtlingen individuell zu gestalten. Das Verbot der Kinderehe, die Aufklärung der Frauen, dass sie zur Schule gehen, einen Beruf wählen und ausüben können, sei vordringlich. Es komme zudem darauf an, die Werte zu vermitteln, dass Europa den Einzelnen beschützt und den Einzelnen aus dem Herrschaftssystem der Männer befreien kann. Nur so ließe sich die Emanzipation von den überkommenen Familienstrukturen der Herkunftsländer erreichen.
Die Familienstrukturen sind nach Auffassung von Necla Kelek der Kern jeder islamischen Herrschaft und der Islam sei eine Männerreligion, die die Position und Stellung des jeweiligen Familienoberhauptes im Familienverbund zu stützen habe. Der Familiennachzug sei damit der vorhersehbare Import einer mit Deutschland nicht kompatiblen Struktur, die für den deutschen Rechtsstaat erhebliche Herausforderungen beinhalte. Die Wissenschaftlerin empfiehlt der deutschen Politik daher, auf den Familiennachzug bei nur subsidiär Schutzbedürftigen zunächst zu verzichten.
Für den Strafvollzug wäre eine solche Entwicklung eine enorme Belastung, weil er mit noch mehr kulturfremden Menschen konfrontiert würde und auch an seine Kapazitätsgrenzen stoßen dürfte. Es wären folglich hohe Investitionen erforderlich, um den Strafvollzug auch unter diesen Bedingungen in die Lage zu versetzen, seine gesetzlichen Aufgaben auf einem hohen Qualitätsniveau dauerhaft wahrnehmen zu können.
Wie alle politischen Kräfte des linken Parteienspektrums träumt auch die SPD von der Bürgerversicherung und meint, damit eine Zwei-Klassen-Medizin verhindern zu können. Dieses Ziel wird mit diesem Modell nach Expertenmeinung jedoch nicht erreicht werden. Erreichen kann man durch Ausschaltung des Wettbewerbs ein Stagnieren von Innovationen. Bislang wetteifern Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und Private Krankenversicherung (PKV) um die besseren Leistungen und befruchten sich so wechselseitig.
Die Privatkassen sind dabei auf Vollfinanzierung ihrer Leistungen durch das Beitragsaufkommen ihrer Mitglieder angewiesen, während bei der gesetzlichen Kasse schon einmal der Steuerzahler unterstützend eingreift, weil mitunter kassenfremde Leistungen zu finanzieren sind.
Jetzt aber die Probleme der GKV durch Zugriff auf die rd. 200 Mrd. Euro Altersrückstellungen der PKV lösen zu wollen, dürfte sich als Irrweg erweisen. Die strukturellen Mängel eines Systems können nicht dadurch beseitigt werden, dass man mehr Geld zur Verfügung stellt. Die Pharmaindustrie mit ihren hohen Arzneimittelpreisen und die ärztliche Selbstverwaltung müssen derzeit nicht das Ziel verfolgen, die Kosten so gering wie möglich zu halten. Ihr Bestreben geht eher dahin, möglichst viel Geld für die Leistungserbringer aus dem System herauszuholen. Hier gilt es, den Hebel anzusetzen. Es ist nicht einzusehen, dass in Deutschland deutlich mehr Geld für Arzneimittel ausgegeben werden muss als in anderen Ländern mit ähnlichem Lebensstandard.
Außerdem würde eine Bürgerversicherung das Entstehen einer Zwei-Klassen-Medizin keinesfalls verhindern, sondern eher noch begünstigen. Denn Reiche werden immer bereit sein, für besondere medizinische Leistungen viel Geld auf den Tisch zu legen. Und jene, die es nicht ganz so üppig haben, auf Sonderleistungen aber nicht verzichten wollen, werden durch die Bürgerversicherung dazu gebracht, Zusatzversicherungen abzuschließen. Im Endeffekt würde dieser Personenkreis einfach zusätzlich zur Kasse gebeten.
Ein Blick nach England vermittelt einen Eindruck davon, dass ein solches System ohne den Anpassungsdruck des Wettbewerbs in seiner Entwicklung stagniert und sich Leistungen auf geringerem Niveau stabilisieren. Nur weil die Bertelsmann Stiftung herausgefunden haben will, dass die Abschaffung des Beihilfesystems für die Beamten einen Einspareffekt von rd. 60 Mrd. Euro haben könnte, sollte die SPD nicht in Euphorie verfallen. Sie ist den Empfehlungen der Stiftung mit der Agenda 2010 schon einmal auf den Leim gegangen.
Und dann wären da noch die verfassungsrechtlichen Fallstricke. Der Zugriff auf die Altersrückstellungen der PKV wäre eine enteignungsgleiche Maßnahme, die nicht ohne weiteres möglich ist. Der Zugriff auf das Beihilfensystem der Beamten gestaltet sich ebenfalls schwierig, weil es wesentlicher Bestandteil der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums ist und diese Grundsätze verfassungsrechtlichen Schutz genießen.
Die SPD wäre gut beraten, sich bei den Gesprächen mit der Union weniger auf Ideologie und mehr auf die praktische Lösung aufgetretener Probleme zu konzentrieren. Die Wählerinnen und Wähler aus der Herzkammer der Sozialdemokratie im Ruhrgebiet haben der SPD nicht deshalb den Rücken gekehrt, weil es bislang weder Familiennachzug noch Bürgerversicherung gibt. Die Kernklientel der SPD erwartet vielmehr eine gerechte Beteiligung am wirtschaftlichen Erfolg der Gesellschaft und nicht die Vergrößerung des Heeres unqualifizierter Arbeitskräfte, um die Löhne noch stärker unter Druck zu setzen. Sie erwartet auch Lösungen für die Zukunftsaufgabe der Digitalisierung, die zur Freisetzung von vielen Arbeitskräften führen wird. Die einstige Kernklientel der Partei erwartet darüber hinaus, dass die Politik und damit auch die Sozialdemokratie verhindert, dass unser Sozialsystem durch unkontrollierte Zuwanderung und Scheinarbeitsverträge für „Aufstocker“ unter Druck gesetzt wird und sie erwartet endlich die Realisierung der so lange angekündigten gerechten Besteuerung aller Bevölkerungsgruppen, speziell aber der Wohlhabenden im Land.
Friedhelm Sanker