EuGH-Urteil stärkt Arbeitnehmerrechte: Urlaubsanspruch kann nicht automatisch verjähren
Die meisten Urlaubsverordnungen des öffentlichen Dienstes sehen Fristen vor, ab dem ein Urlaubsanspruch verfällt. In der Privatwirtschaft sind solche Fristen weitgehend unbekannt, weil Urlaubstage nur sehr eingeschränkt ins nächste Kalenderjahr verschoben werden können.
Diese Ansprüche erlöschen folglich mit Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres. Lediglich im Krankheitsfall verfällt ein Urlaubsanspruch nach fünfzehn Monaten automatisch.
In zwei Fällen legte das Bundesarbeitsgericht dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor, ob ein entsprechender Anspruch auch dann nach fünfzehn Monaten verfallen darf, wenn der Arbeitgeber die ihm obliegenden Pflichten nicht erfüllt hat, also den Arbeitnehmer nicht informiert hat, dass sein Urlaubsanspruch ggfls. verfällt, wenn er ihn nicht in einer festzulegenden Frist genommen hat. Wird der Arbeitnehmer nicht explizit darauf hingewiesen, seine noch offenen Urlaubstage zu nehmen, verfallen diese auch nicht.
Die Fallkonstellation der vorgelegten Fälle entschied der Europäische Gerichtshof dahingehend, dass ein Urlaubsanspruch nur dann verfalle, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt habe, den Urlaub zu nehmen. Ein Erlöschen des Urlaubsanspruchs komme nur ausnahmsweise in Betracht, um die negativen Folgen einer unbegrenzten Ansammlung von Urlaubsansprüchen nach Abwesenheit wegen Langzeiterkrankung zu vermeiden.
Der EuGH urteilte, dass ein erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraumes nicht erlischt, wenn der Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt wurde, seinen Urlaub tatsächlich zu nehmen. Von diesem Grundsatz könnten die Mitgliedsstaaten nicht abweichen.
In einem dritten Fall hatte eine Klägerin geltend gemacht, sie habe ihren Jahresurlaub wegen hohen Arbeitsaufkommens nicht nehmen können. Sie forderte die nachträgliche Abgeltung der nicht genommenen Urlaubstage. Ihr Arbeitgeber argumentierte, die Urlaubsansprüche seien nach Ablauf der im Zivilrecht üblichen Frist von drei Jahren verjährt.
Der Europäische Gerichtshof stellte klar, dass eine Verjährung des Urlaubsanspruchs nur rechtens sei, wenn der Arbeitgeber zuvor dafür gesorgt habe, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrnehmen konnte.
Nach Ansicht der Richter sind Arbeitnehmer regelmäßig die schwächere Partei des Arbeitsvertrages. Deshalb sollte die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Urlaubsanspruchs zu sorgen, nicht einfach dort abgeladen werden können. Andernfalls könne sich jeder Arbeitgeber seiner eigenen Pflicht unter Berufung auf einen fehlenden Antrag des Arbeitnehmers entziehen.
Die mit der Verjährung bezweckte Gewährleistung der Rechtssicherheit dürfe durch Arbeitgeber nicht als Vorwand genutzt werden, sich durch eigenes Versäumnis im Klageverfahren noch einen Vorteil zu verschaffen, stellt der EuGH fest.
Ließe man zu, dass sich Arbeitgeber auf die Verjährung von Ansprüchen berufen können, ohne den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt zu haben, den Anspruch wahrzunehmen, würde man im Ergebnis ein Verhalten billigen, das zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Arbeitgeber führe und das damit dem Zweck des Erholungsurlaubs zuwiderlaufe, urteilte das Gericht.
Auf welche Weise Arbeitgeber, diese Aufgabe wahrnehmen, ist nicht genau geregelt. Aber klar ist: Nur ein Satz im Arbeitsvertrag reicht keinesfalls aus. Der Hinweis auf den offenen Urlaub muss nach den Forderungen des Gerichts individualisiert sein. Dies bedeutet: Es muss ersichtlich sein, wie viel Urlaub im Kalenderjahr noch offen ist und dass er alsbald genommen werden sollte, weil er ansonsten verfällt.
Es genügt also nicht, wenn ein Unternehmen eine Mail an alle Angestellten schickt, um daran zu erinnern, den Urlaub rechtzeitig zu nehmen. Vielmehr muss jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin einzeln darauf aufmerksam gemacht werden, wie viele offene Tage er oder sie noch hat und ab wann diese verfallen können. Es empfiehlt sich, diese Informationen standardisiert per E-Mail zu versenden, weil der Arbeitgeber dann im Zweifel nachweisen kann, dass er seine Pflichten erfüllt hat.
Friedhelm Sanker