Der Koalitionsvertrag steht: Hendrik Wüst erneut zum Ministerpräsidenten gewählt
Erstaunlich geräuschlos sind die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und Grüne über die Bühne gegangen.Ebenso harmonisch verlief die heutige Wahl des Regierungschefs. Hendrik Wüst erreichte im ersten Wahlgang mit 106 Stimmen die absolute Mehrheit der Landtagsabgeordneten. Am 29. Juni 2022 soll jetzt das Kabinett ernannt und vereidigt werden.
Dem Vernehmen nach ist Dr. Benjamin Limbach als designierter Kandidat für das Amt des Ministers der Justiz vorgesehen. Der Koalitionsvertrag umfasst 146 Seiten. Er verliert sich mitunter in zu vielen Details, lässt allerdings auch große Linien erkennen. Für die künftige Gestaltung des Strafvollzuges wird die bisherige inhaltliche Ausrichtung fortgeschrieben. Als Innovation soll ein neuer Versuch gestartet werden, den Jugendvollzug in Freien Formen neu zu beleben.
Es war ein großer Tag für Hendrick Wüst (CDU), schließlich wurde erstmals ein CDU-Ministerpräsident im Amt bestätigt. Gleich im ersten Wahlgang reichte es zur qualifizierten Mehrheit, so dass man von einem gelungenen Start der Koalitionäre sprechen konnte. Der Wahlakt und die anschließende Gratulationskur gingen harmonisch über die Bühne. Hierzu trug bei, dass Hendrik Wüst sich bei SPD und FDP für ihre bislang staatstragende Arbeit bedankte und anbot, auch künftig im gemeinsamen Wettstreit der besten Ideen für NRW zu wirken und möglichst auf tendenziöse Nickeligkeiten und persönliche Angriffe zu verzichten.
Die Koalitionäre haben sich darauf verständigt, den Justizvollzug konzeptionell, personell, räumlich und finanziell so aufzustellen, dass ein humaner, auf das Ziel der Resozialisierung ausgerichteter Strafvollzug helfen kann, die Allgemeinheit zu schützen, straffällig gewordene Menschen wieder in die Gesellschaft einzugliedern und weitere Straftaten zu vermeiden.
Die Behandlungs- und Beratungsangebote für suchtmittelabhängige, pflegebedürftige, kranke und psychisch auffällige Gefangene sollen verbessert und ausgeweitet werden. Hierfür sollen auch die Möglichkeiten der Telemedizin genutzt werden, um die aktuellen Verhältnisse zu verbessern.
Die Erziehungsarbeit im Jugendvollzug soll dadurch intensiviert werden, dass die Leitungsteams dieser Einrichtungen um eine Pädagogenstelle ergänzt werden. Außerdem soll ein Modellprojekt zum Jugendvollzug in Freien Formen umgesetzt werden.
Schwarz-Grün hat sich darauf verständigt, die hohe Arbeitsbelastung im Justizvollzug durch eine bessere Personalausstattung insbesondere im Allgemeinen Vollzugsdienst sowie dem medizinischen, psychologischen und sozialen Dienst zu senken. Den Kolleginnen und Kollegen soll mehr Zeit gegeben werden, sich verstärkt um die Inhaftierten mit ihren zunehmend komplexeren Problemlagen zu kümmern.
Zudem ist eine weitere Forderung des BSBD NRW aufgegriffen worden, indem die Landesregierung nunmehr die Frage prüfen will, ob Gefangene während der Haftzeit Rentenansprüche erwerben können.
Der Vollzug soll während er laufenden Legislatur familienfreundlicher werden. Das Übergangsmanagement wird durch Einrichtung von Übergangshäusern ausgeweitet. Der derzeit allenthalben spürbare Facharbeitermangel soll so genutzt werden, um Gefangene nach der Entlassung vermehrt in Brot und Arbeit zu bringen.
Die teilweise marode Bausubstanz mancher Einrichtungen soll nach dem Willen der Koalition kein Dauerzustand bleiben. Das Justizvollzugsmodernisierungsprogramm soll vorangetrieben werden unter gleichzeitiger Beachtung von Brandschutz und Digitalisierung.
Die seinerzeit schwarz-gelbe Landesregierung hat 2009 die gesetzliche Grundlage geschaffen, Jugendvollzug auch in Freien Formen vollziehen zu können. Damals stand das Projekt unter keinem glücklichen Stern. Seinerzeit wurde das Raphaelshaus in Dormagen zum Träger dieses Projektes bestimmt. Der BSBD NRW hat diese Form der stillschweigenden Privatisierung vollzuglicher Aufgaben nachdrücklich kritisiert. Hoheitliche Aufgaben - wie die Vollstreckung von Strafen - ist eine staatliche Pflichtaufgabe, die mit eigenem Personal wahrzunehmen ist.
Zu Beginn und im weiteren Verlauf des Modellversuchs ereigneten sich zahlreiche Sicherheitsstörungen, die auf Unzulänglichkeiten und Fehlverhalten des eingesetzten Personals zurückzuführen waren. Der damalige Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) zog daraufhin die Reißleine und beendete das Modellprojekt. Seither hat sich niemand mehr getraut, das Projekt zu neuem Leben zu erwecken.
Der BSBD NRW ist sich sicher, dass es durchaus einen Bedarf und eine Berechtigung für die intensive und effektive Erziehung junger Straftäter gibt und dass der Vollzug in Freien Formen hier hilfreich sein kann.
Die Einübung eines geordneten Tagesablaufs, die Behebung schulischer und beruflicher Defizite und die Übertragung von Verantwortung eröffnen sicher Chancen, die sich im Jugendvollzug abzeichnenden kriminellen Karrieren zu beenden, bevor sie sich verfestigen. Der BSBD NRW hält das in Aussicht genommene Modellprojekt deshalb durchaus für sinnvoll, weil jede gelungene Wiedereingliederung die Sicherheit der Allgemeinheit erhöht.
Das Projekt sollte jedoch nicht zum Anlass genommen werden, erneut in die Diskussion um die Privatisierung hoheitlicher Aufgaben einzutreten. Beim Jugendvollzug in Freien Formen handelt es sich unzweifelhaft um eine Aufgabe, für die der Funktionsvorbehalt des Artikels 33 Abs. 4 Grundgesetz zu gelten hat. Diese staatliche Pflichtaufgabe müsste das Land künftig mit eigenem Personal in eigenen Einrichtungen durchführen.
Der Koalitionsvertrag hat unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Für den Bereich des Vollzuges hat sich Landesvorsitzender Ulrich Biermann verhalten optimistisch geäußert: „Es ist erfreulich, dass der Vollzug keinen konzeptionellen Wechselbädern ausgesetzt werden soll und dass sich die Koalitionäre zu einer aufgabenangemessenen Personalausstattung bekennen. Wenn jetzt noch die Steigerung der Attraktivität und der Aufstiegsmöglichkeiten hinzutreten, könnte man zufrieden sein.“
Die Ungewissheit hinsichtlich der Gestaltung des Modellprojekts „Jugendvollzug in Freien Formen“ wird der BSBD NRW zum Anlass nehmen, sehr schnell mit dem neuen Justizminister ins Gespräch zu kommen, um die Position der Gewerkschaft zu verdeutlichen. Allen Beteiligten sollte allerdings bewusst sein, stellte Biermann unmissverständlich fest, dass eine „Privatisierung durch die Hintertür“ die künftige Zusammenarbeit erheblich belasten würde.
Friedhelm Sanker